Wohnung der Familie Kuza

Etwas überrascht drehte sich der Junge um, als ihm auf einmal ein guter Morgen gewünscht wurde. Ayano war bereits wach und sie wirkte ungewohnt munter. Ein ungewohnter Anblick für diese Uhrzeit, schlief das Mädchen sonst doch gerne aus. "Guten Morgen, Aya", erwiderte er den Gruß und wandte sich dann wieder der Pfanne vor sich zu. "Wie kommt es, dass du schon so früh wach bist?" Immerhin hatte er gerade erst einmal die Hälfte des Essens fertig. Konnte es sein, dass sie von dem Geruch aufgewacht war? Oder wollte sie ihm ernsthaft immer noch beweisen, dass sie auch selbst Verantwortung übernehmen konnte? Kurz kam die Diskussion von gestern wieder in den Kopf des Jungen. Für ihn hatte sich die Sache erledigt, schließlich hatten sie vorerst einen Kompromiss gefunden. Allerdings wusste er auch, wie stur seine Schwester manchmal sein konnte. Ihre Frage nach dem Essen, brachte ihn aber zumindest wieder von diesen anstrengenden Gedanken weg. "Pfannkuchen mit Gemüsefüllung", erklärte er knapp, da es neben dem Geruch auch offensichtlich sein mussten. Die ersten Exemplare waren bereits fertig und es war nun wirklich keine Seltenheit, dass er dieses Gericht zum Frühstück machte. Vermutlich wollte sich Ayano einfach nur unterhalte und Shinya konnte es nicht leugnen, dass ihm die Gesellschaft gefiel.

"Was, darf ich etwa nicht früh aufstehen?", entgegnete Ayano sogleich mit gespielt empörter Stimme auf Shinyas Frage. Ihr war klar, dass es nur normal war, dass der Junge eine solche Frage stellte, immerhin war sie sonst diejenige, die eher schwer aus dem Bett zu bekommen war. "Ich freu mich einfach auf heute", begann sie dann aber doch zu erklären. "Der Schultag gestern war nicht ganzes und nichts halbes. Ich konnte mich nicht wirklich mit jemandem unterhalten, deswegen bin ich heute umso gespannter." Sie konnte es nicht verhindern, dass ihr Grinsen noch etwas breiter wurde. Dabei sollte sie sich auf die Schule doch eigentlich gar nicht freuen. Vielleicht war Shinyas Sorge ja gar nicht so unangebracht. Doch erst einmal war der Start in den Tag, ihr Frühstück, wichtiger. "Mit Gemüse?" Beinahe geschockt schaute sie ihren Bruder an. Shinya füllte die Pfannkuchen oft mit unterschiedlichen Dingen. Gemüse gehörte dabei nicht gerade zu Ayanos Favoriten. "Wieso denn kein Obst? Oder einfach nur Zucker?" Dabei warf sie ihrem Bruder einen flehenden Blick zu, auch wenn er diesen nicht sehen konnte. So lecker die gefüllten Pfannkuchen auch rochen, zum Frühstück bevorzugte Ayano lieber nicht ganz so deftige Speisen.

Ayanos Erklärung klang mehr als plausibel. Bereits vor Wochen hatte sie ihm nicht nur einmal mitgeteilt, wie sehr sie sich darauf freute, endlich Infizierte kennen zu lernen und generell war seine Schwester sehr gesellig. Dass sie dafür aber freiwillig aus dem Bett kam bedeutete, dass sie sich wirklich darauf freute. Shinya konnte nur hoffen, dass sie nicht enttäuscht wurde. Wieder einmal schweiften seine Gedanken zu Selina, was ihm ein flaues Gefühl ihm Magen verursachte. Wie gefährlich war es, wenn sie sich mit einem Infizierten anfreunden würde? Doch wer war er, darüber zu urteilen. Schließlich hatte er genau das gleiche vor. Shinya seufzte stumm in sich hinein, ehe er den nächsten Pfannkuchen aus der Pfanne nahm, zur Seite legte und sich dann zu seiner Schwester umdrehte. "Gerade jetzt im Winter brauchst du viel Energie, da werde ich dich nicht ohne eine ordentliche Mahlzeit aus dem Haus lassen." Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber Shinya war klar, dass Ayano es nicht akzeptieren würde, wenn er ihr sagte, dass er nicht wollte, dass sie und insbesondere Ayano so viel Zucker zu sich nahmen.

Als Shinya endlich zu ihr schaute, wollte Ayano gerade wieder ihren bettelnden Blick aufsetzen, doch seine Worte stoppten sie. Stattdessen verdrehte sie die Auge. "Oh mein Gott, du führst dich auf, als wärst du unsere Mutter." Kurz musste sie an die Frau denken, an die sie sich nur verschwommen erinnern konnte und deren Aussahen sie nur noch von Bildern kannte. Jedoch schüttelte sie diese Gedanken schnell ab, immerhin wollte sie die Stimmung des Gesprächs nicht in eine derartige Richtung lenken. "Ich werde schon nicht vom Fleisch fallen, wenn ich einen Tag mal etwas süßes frühstücke", sprach sie daher weiter und verschränkte dabei die Arme vor der Brust. Ihr war klar, dass sie dabei nicht weit bei ihrem Bruder kommen würde, dennoch versuchte Ayano es. Es war nicht ihre Art, einfach so aufzugeben. Kurz dachte sie sogar darüber nach, sich auf dem Weg zur Schule eine Kleinigkeit zu kaufen. Aber nicht nur würde Shinya das höchstwahrscheinlich mitbekommen, auch wollte sie für so etwas kein eh schon knappes Geld ausgeben. So verantwortungsvoll war das Mädchen dann doch schon.

"Sei doch froh, dass sich jemand so um euch kümmert", entgegnete Shinya sofort. Er sah nichts schlechtes daran, eine derart fürsorgliche Mutter zu haben, besonders da er beide seiner Mütter verloren hatte. Demnach kam Ayanos Aussage viel mehr einem Kompliment gleich. "Manche Kinder haben beide Elternteile und sehen diese jeden Tag und bekommen nicht im Ansatz das geboten, was ich euch versuche zu geben." Obwohl er hatte neutral dabei klingen wollte, ließ es sich nicht vermeiden, dass ein Hauch von Enttäuschung in Shinyas Stimme mitschwang. Ihm war klar, dass Ayano es nicht böse meinte und sich wieder nur unüberlegt ausgedrückt hatte. Seine Reaktion war mindestens genauso unangenehm, während er sich wieder der Pfanne und dem nächsten Pfannkuchen zuwandte. Warum mussten sie am frühen Morgen solche Gespräche führen? Am besten wäre es, wenn er einfach den Mund hielt und auch nicht weiter darüber nachdachte. Im Augenblick gab es wirklich genügend andere Dinge, über die er sich den Kopf zerbrechen konnte, da brauchte er nicht auch noch eine solche Thematik aufzubringen.

Ihr Blick bohrte sich geradezu in Shinyas Rücken, als dieser sich wieder wegdrehte. Hatte sie etwa etwas falsches gesagt? Ihr Bruder hatte definitiv verletzt geklungen. "Shinya, so war das nicht gemeint. Du weißt genau, wie dankbar wir dir dafür sind, dass du dich so um uns kümmerst. Deswegen wollen wir dich ja auch unterstützen." Ein wenig ärgerte sich Ayano schon darüber, dass sie das Gespräch in diese Richtung gelenkt hatte. Allerdings konnte sie es auch nicht glauben, dass der Junge anscheinend wirklich von ihr dachte, dass sie derart undankbar war. "Es sollte nur ein Scherz sein, tut mir leid." Ihre Entschuldigung nuschelte sie nur, während sie ihren Kopf in ihre Arme, die auf der Tischplatte lagen, bettete. "Und keine Sorge, ich werde deine Pfannkuchen essen. Auch wenn ich morgens süße Speisen bevorzuge, so werden sie doch lecker sein." Wie so ziemlich alles, was der Junge zubereitete. Hoffentlich kam Shinya so wieder auf andere Gedanken, damit sich die schlechte Stimmung schnell wieder auflöste. Der Junge war momentan so empfindlich, was Ayano auf seine Erschöpfung schob. Vielleicht war es besser, wenn sie mehr darauf achtete, dass er nicht noch krank wurde. Das war etwas, was sie sich wirklich nicht leisten konnten.

Wie er vermutet hatte, hatte Ayano es nicht böse gemeint und entschuldigte sich nun nicht nur einmal bei Shinya. Kurz drehte sich der Junge wieder zu ihr, um ihr ein leichtes Lächeln zuzuwerfen. "Ist schon okay, Aya", versicherte er ihr, damit sie sich kein schlechtes Gewissen machte. "Ich wollte nicht so verbittert klingen, es ist alles gut." Das war es wirklich. Wie sollte er seiner Schwester, die sich so um ihn sorgte, auch böse sein? Er wusste nach all den Jahren doch, wie sie war. Danach sprach er allerdings nicht weiter, da er sich erst einmal darauf konzentrierte, seine Gedanken zu sortieren. Es war schon ein deutlicher Unterschied, dass Ayano ihm nun auf einmal Gesellschaft in der Küche leistete. Eigentlich konnte Shinya die Zeit morgens nutzen, um für sich selbst zu sein. Vielleicht war es aber ganz gut, dass sie ihn an diesem Morgen etwas ablenkte. Er wusste schon, dass er ansonsten nur über eine ganz gewisse Sache nachdenken und sich den Kopf zerbrechen würde.
Shinya machte die Pfannkuchen fertig und schickte schließlich Ayano los, um Yuiko zu wecken. Währenddessen deckte er schon einmal den Tisch und bereitete alles vor, damit sie zusammen frühstücken konnten. Mit jeder Minute kam er dem Augenblick näher, in dem er Selina wieder sehen würde. Und so entspannt er gestern morgen noch in die Schule gegangen war, so angespannt war Shinya nun. Er konnte sich wirklich nicht erklären, wo das auf einmal herkam.

Es war nicht Shinya, der das Mädchen an diesem Morgen weckte. Mit überraschten Blick schaute Yuiko in das Gesicht ihrer Schwester, die über sie gebeugt neben ihrem Bett stand und sie leicht angrinste. Es kam nicht oft vor, dass Ayano sie weckte. Meistens war es eher anders herum. "Aya? Was ist los?" Langsam setzte sich die Grünhaarige in ihrem Bett auf und rieb sich dann die Augen. War irgendwas passiert? Aber so sah ihre Schwester nicht aus. "Warum bist du schon wach?", fragte sie daher weiter. Es war offensichtlich, dass es bereits Morgen war und sie nun aufstehen musste. Tatsächlich war Yuiko aber noch ziemlich müde, weshalb sie herzhaft gähnte, ehe sie sich darauf vorbereitete aufzustehen. Wenn sie schon nicht mehr schlafen durfte, dann wollte sie zumindest sitzen. Vielleicht war es auch nur ein Irrtum seitens Ayano und sie konnte sich gleich wieder hinlegen, auch wenn ihre Hoffnung dafür nicht allzu groß war.

Nicht nur war Yuiko über allen Maßen verwirrt, auch sah sie richtig süß dabei aus. Ayano hielt sich aber zurück, da dies nicht der geeignete Augenblick war, um ihre Schwester aufzuziehen. "Wie, was ist los? Ich wecke dich heute. Shinya ist schon mit dem Frühstück fertig, da wollte ich dich holen." Sie sprach so, als wäre es selbstverständlich, auch wenn sie Yuikos Zweifel verstehen konnte. Ihre nächste Frage brachte es auch noch einmal auf den Punkt. Warum war sie schon wach? Eigentlich eine gute Frage. Ayano entschied sich, ihr auszuweichen. Alles andere wäre zu kompliziert. "Ich freue mich heute so sehr, da konnte ich nicht länger liegen bleiben." In gewissem Maße stimmte das sogar. Um deutlich zu machen, dass sie nicht weiter darüber reden würde, stand das Mädchen auf und schaute zu seiner Schwester herab. "Wie siehst aus, willst du mitkommen?" Dabei streckte sie ihr ihre Hand hin, um Yuiko vom Bett zu helfen. Sie ging davon aus, dass sie mitkommen würde. Zumindest konnte sie sich nicht vorstellen, dass sich das Mädchen einfach wieder hinlegte und weiter schlief.

Shinya hatte also schon gekocht. Dann war definitiv keine Zeit mehr, sich noch einmal hinzulegen. Yuiko verabschiedete sich von diesem verlockenden Gedanken und streckte sich dann einmal, um die Müdigkeit aus ihren Knochen zu verjagen. Obwohl Ayanos Worte, dass sie sich zu sehr freute, sehr unglaubwürdig klangen, ging Yuiko nicht weiter auf sie ein. Ayano war ein Langschläfer, sie konnte sich kaum vorstellen, dass sich das auf einmal wegen etwas Freude änderte. Aber wenn ihre Schwester nicht darüber sprechen wollte, dann war Yuiko die letzte, die sie dazu zwingen würde. Stattdessen griff sie ohne weiter zu zögern nach der Hand, die ihr hingestreckt wurde, und stand aus dem Bett auf. Erst jetzt roch sie den köstlichen Essensgeruch, der aus der Küche in das Zimmer zog. Auf einmal war ihre Motivation, aufzustehen, größer. Sie ließ Ayanos Hand wieder los und eilte stattdessen in die Küche.
"Shinya. Guten Morgen", begrüßte sie ihren Bruder strahlend. "Was gibt es leckeres?" Noch während sie diese Frage stellte, heftete sich ihr Blick an den gedeckten Tisch. Auf den Tellern lagen Pfannkuchen, die allem Anschein nach mit etwas gefüllt waren. Eine von Shinyas Spezialitäten, zumindest gab es sehr oft Pfannkuchen zum Frühstück. Ohne zu zögern setzte sich das Mädchen an den Tisch und wartete dann auf ihre Geschwister, damit sie anfangen konnte. "Danke für das leckere Essen", bedankte sich Yuiko bereits, ehe sie es überhaupt probiert hatte. Sie war sich sicher, dass es genauso gut schmecken würde, wie immer.

Wie ein kleiner Wirbelsturm kam Yuiko in die Küche und zauberte Shinya damit sogleich ein Lächeln auf die Lippen. Sie war so rein. "Guten Morgen, Yuiko", grüßte er sie zurück und setzte sich dann gleich zu seiner Schwester. Auch wenn es doof war, so hatten sie nicht sonderlich viel Zeit. Nach dem Frühstück mussten sich seine Schwestern noch umziehen und die Sachen für die Schule zusammen suchen. Deswegen mussten sie sich beim Essen nun etwas beeilen, weswegen er Ayano einen auffordernden Blick zuwarf. Danach wandte er sich wieder der Grünhaarigen zu. "Danke", bedankte er sich kichernd und deutete dann auf ihren Teller. "Aber du hast doch noch gar nichts probiert. Danach kannst du mir noch einmal sagen, wie es wirklich schmeckt." Er wusste, dass Ayano es immer so machte. Sie ging davon aus, dass alles was er kochte lecker war. Natürlich schmeichelte ihn dieser Gedanke, auch wenn er die Erwartungen an ihn natürlich hochschraubte. Vermutlich würde Yuiko es ihm aber nicht einmal sagen, wenn ihm etwas mal nicht gelungen war. Also machte es im Endeffekt wohl keinen Unterschied, ob sie ihm bereits vor dem ersten Bissen sagte, wie lecker sein Essen war. Bei dem Gedanken musste Shinya leicht grinsen.

Auch wenn es nicht süß war, so hatte das Frühstück doch sehr gut geschmeckt. Um ehrlich zu sein hatte Ayano aber auch nichts anderes erwartet. Shinya war nun einmal sehr begabt, was das Kochen anging. Danach scheuchte er die beiden Mädchen aber ziemlich, damit sie nicht ihren Bus verpassten. Als sie dann endlich die Wohnung verließen, überraschte es Ayano nicht sonderlich, dass alles weiß war. Der starke Schneefall von gestern Abend hatte wohl noch eine ganze Weile angehalten. Umso erleichterter war sie darüber, dass sie ihre dicke Jacke anhatte, in die sie sich sogleich shmiegte. "Ob der Bus heute überhaupt fährt?" Sie hoffte es doch sehr. Nicht nur, weil sie unbedingt in die Schule wollte, sondern vor allem, weil sie keine Lust hatte, den ganzen Weg zu laufen. Und wie sie ihren Bruder kannte, so würde er sie genau dazu zwingen. Ihr Blick zur Straße überraschte das Mädchen aber etwas. War der Gehweg mit einer Zentimeter dicken Schneeschicht bedeckt, so lag auf der Straße nicht einmal eine Flocke. Ein seltsames Bild, das deutlich machte, wie gut die Stadt anscheinend auf den Winter vorbereitet war. "Das wird sicher an spaßiger Schultag", merkte sie an, als sie die Bushaltestelle erreichten. Dabei stellte sie sich eine gigantische Schneeballschlacht vor. Mit Sicherheit würde es genug Schüler geben, die diesen Anlass nutzen würden. Ob Ayano es das aber wert war, um zu frieren, konnte das Mädchen noch nicht sagen. Eine Schneeballschlacht war nur dann wirklich cool, wenn man sich danach gleich duschen und umziehen konnte. Sie seufzte leise. Hätte sie nur heute morgen einen Blick aus dem Fenster geworfen. Dann hätte sie entsprechende Kleidung mitnehmen können.

[Shinya, Yuiko & Ayano gt: Napolia Neustadt, Straßen der Neustadt]