Wohnung der Familie Kuza

[Ayano und Yuiko cf: Hochschule, Schulhof]

Schnell waren die Gedanken an Selina vergessen, auch wenn Yuiko noch zu verstehen versuchte, warum Shinya andere Freunde neben ihnen brauchte. Das Mädchen wäre auch mit seinen Geschwistern alleine vollkommen zufrieden. Als Ayano sie aber nach ihrem Wunschgericht fragte, musste Yuiko nicht lange überlegen und auch diese Gedanken waren vergessen. "Spaghetti" Sie lächelte ihre Schwester breit an. Das war definitiv eines ihrer Lieblingsgerichte, die sie auch schon alleine sehr gut hinbekam. Auch wenn Shinya vorhin gesagt hatte, dass Ayano alles alleine machen sollte, so würde sie ihrer Schwester dennoch helfen.

Schnell hatten sie den kurzen Fußweg und die Treppen zu ihrer kleinen Wohnung überwunden. Und nachdem sie ihre Taschen schon mal in ihr gemeinsames Zimmer, welches für drei Leute wirklich sehr klein war, geräumt hatten, wollte Yuiko auch schon gleich mit dem kochen beginnen. Bis zum Mittag war es zwar noch eine Stunde, aber essen konnte sie auch jetzt schon. "Ich koche das Wasser", sagte Yuiko schnell, während sie schon einen Topf suchte. Die Nudeln zu kochen war wesentlich einfach, als die Soße, darum konnte sich Ayano kümmern.

Ayano wunderte es nicht, dass Yuiko Spaghetti wollte, war es immerhin ihre Lieblingsspeise. Wie immer half ihre Schwester eifrig mit und machte sich sogleich an die einfachere Aufgabe des Nudelkochens. Das Mädchen störte sich nicht daran, immerhin musste sie so oder so für Yuiko etwas kochen, dafür hatte sie sich eben freiwillig bereit erklärt. Ihre Gedanken wanderten wieder zu Shinya, während sie ihrer Schwester in die Küche folgte, wo diese bereits alle benötigten Zutaten und Gegenstände bereit stellte. Diese Selina war wirklich hübsch gewesen. Außerdem hatte sie sehr ruhig gewirkt und war somit das genaue Gegenteil von Ayano. Vermutlich also genau Shinyas Typ. Hoffentlich nutzte ihr Bruder auch die Chance und vermasselte es nicht. Er hatte schon so viel für seine Schwestern getan, er verdiente es, jetzt auch mal sein Leben leben zu können. So in Gedanken begann Ayano die Zutaten für die Soße zu schneiden. Erst als sie damit fertig war, wandte sie sich ihrer Schwester zu. "Yuiko, wie war denn dein Schultag gewesen? Erzähl doch mal." Sie lächelte das Mädchen breit an. Über all ihre Gedanken um Shinya, hatte sie ganz ihre kleine Schwester vergessen. Sie war heute morgen noch so nervös gewesen, aber anscheinend schien zumindest nicht schlimmes passiert zu sein.

Während Yuiko die Nudeln kochte und dabei nicht dem Herd von der Seite wisch, bemerkte sie, wie nachdenklich Ayano war. Worüber ihre Schwester wohl nachdachte? Zu gerne hätte sie sie gefragt, aber sie wollte nicht stören. Stattdessen starrte sie konzentriert das blubbernde Wasser in dem Topf an. Die Nudeln darin wurden durcheinander gewirbelt und begannen irgendwann lecker zu riechen. Als auf einmal das monotone Geräusch des Gemüseschneidens endete, durchbrach Ayanos Stimme die entstandene Stille. Und obwohl Yuiko auf ein Gespräch gewartet hatte, so drehte sie sich doch nicht um, sondern starrte weiterhin auf den Topf vor sich. Wieso fragte sie so etwas? Okay, es war nur logisch, dass diese Frage nach dem ersten Schultag kam, aber das Mädchen wollte nicht wirklich darüber reden. Immerhin war nichts interessantes passiert. "Ganz nett", antwortete sie daher. "Wir hatten ja nur zwei Stunden, also ist nicht viel passiert." Dabei würde Ayano das selbst genauso wissen, schließlich war sie auch in der Schule gewesen. "Sag nur, du hast in dieser Zeit mehr erlebt?", stellte sie die Gegenfrage und drehte sich endlich zu ihrer Schwester um. Diese lächelte sie breit an, so dass Yuiko nicht anders konnte, als dieses zu erwidern. Vielleicht war es doch ganz gut, dass Shinya nicht da war. Auch wenn sie ihren Bruder vermisste, so hätte er sie mit Gewissheit ausgefragt.

Ayano bemerkte sofort, dass ihre Schwester etwas bedrückte. Nicht nur wie sie sich verhielt, sondern vor allem auch, was sie sagte. Yuiko war ein überaus fröhliches Mädchen, ein ganz nett war da beinahe schon einem schrecklich gleichzusetzen. Außerdem schien sie gar nichts zu erzählen haben, dabei sprudelte sie sonst immer geradezu über, wenn sie irgendetwas neues erlebt hatte und davon erzählen musste. Aber da das Mädchen nicht so wirkte, als wäre etwas schlimmes passiert, machte sich Ayano erst einmal nicht so viele Sorgen. Vielleicht war das heute auch einfach viel zu viel für sie gewesen. Vielleicht musste sie sich erst einmal an die neue Situation gewöhnen. Es war lange her, dass sie zur Schule gegangen war. Ayano seufzte in sich hinein. Es war nicht optimal gewesen, wie die letzten Monate verlaufen waren, doch nun hatten sie ihr neues Leben hier begonnen. Und sie sollten das beste daraus machen. Um nicht weiter über vergangenes nachzudenken, wandte sich das Mädchen also Yuikos Frage zu. "Na ja. Ich habe in der Pause einige Kontakte geknüpft", begann sie über ihren kurzen Schultag zu sprechen. Also eigentlich waren es nur zwei gewesen. "In meiner Klasse sind zwei Jungs, die irgendetwas besonderes an sich haben." Dass sie dazu noch gutaussehend waren, erwähnte Ayano lieber nicht vor ihrer Schwester. Vermutlich würde sie es sowieso nicht verstehen. "Ich musste sie einfach ansprechen und sie waren super nett. Es kann sein, dass wir die Woche irgendwas zusammen machen." Immerhin hatte Luca das so gesagt. Dass der Junge lügen würde, konnte sie sich kaum vorstellen. "Aber du hast Recht. Allzu viel kann in diesen beiden Stunden nicht passiert sein", stimmte sie schließlich ihrer Schwester zu. Obwohl der Tag an sich aufregend gewesen war, immerhin war es eine ganz neue Schulerfahrung, die sie nun hatten, hatte sie nicht wirklich viel erleben können.

Yuiko musste kichern, als ihre Schwester von ihren neuen Freunden erzählte. Das war typisch für Ayano. Sie war immer so aufgeschlossen und lernte schnell neue Leute kennen. Manchmal wünschte sich Yuiko, dass sie etwas mehr, wie das andere Mädchen sein konnte. Kurz schweiften ihre Gedanken zu ihrem Sitznachbarn ab. Nicht mal ein Hallo hatte sie über ihre Lippen gebracht, geschweige denn seinen Namen herausbekommen. Sowieso fragte sie sich, warum sie sich nicht erst einmal alle kennen lernten, bevor sie mit den schulischen Themen begannen. Nicht dass sie ein großer Freund von den üblichen Spielen war, die am ersten Schultag in einer neuen Klasse gespielt wurden, aber so würde sie noch länger brauchen, alle kenne zu lernen. "Sind sie etwa Infizierte?", fragte das Mädchen neugierig. Ayano hatte ihr vor wenigen Tagen erzählt, wie gerne sie sich mit einem anfreunden würde, da sie sich auch für deren Rechte einsetzte. Auch wenn Yuiko dank ihrer Schwester nicht so Recht verstand, was für Probleme alle mit den Infizierten hatten, so war ihr doch nicht entgangen, wie mit den beiden in ihrer Klasse umgegangen war. Zum ersten mal wurde ihr klar, wie sehr Ayanos Worte der Wahrheit entsprachen. Zu schade, dass Shinya ihr den Umgang mit den Infizierten verboten hatte, zu gerne würde sie sich mit ihnen anfreunden, einfach damit sie nicht alleine waren und auch Freunde in der neuen Klasse fanden. Für sie musste es genauso schwierig sein, wenn nicht sogar noch schwieriger. Aber wenn sie alt genug war, dann würde sie das machen. Ganz sicher. Das nahm sie sich vor.

Während sie sich nun endlich unterhielten und Yuiko zu ihrer gewohnt fröhlichen Art zurückgekehrt war, machte Ayano die Soße fertig. Bei Yuikos Frage musste sie jedoch kurz inne halten und das Mädchen mustern. Ihre Frage war so voller Vorurteile, dass Ayano nicht anders konnte, als zu lächeln. Sie hatte ihre Schwester zumindest in diesem Punkt wirklich gut erzogen. Jetzt mussten sie nur noch an ihrer Naivität arbeiten. "Nein, leider nicht", entgegnete sie kichernd. "Ich wollte sie in der großen Pause ansprechen, weil die Zeit zwischen den Stunden nur so kurz war. Hätte ich gewusst, dass wir danach Schulschluss haben, dann hätte ich es vielleicht doch anders gemacht. Aber na ja, dann lern ich sie eben erst morgen kennen." Sie hatte schließlich noch zwei Jahre Zeit dazu, nicht dass sie es so lange aufschieben wollte. "Morgen habe ich dann bestimmt mehr zu erzählen. Und du auch. Es wird dir an der neuen Schule gefallen, da bin ich mir sicher." Aufmunternd schaute sie zu ihrer Schwester, ehe sie breit zu grinsen begann. "Das Essen ist fertig, magst du etwas haben?" Ayano war ganz froh darüber, dass ihre Schwester ein so einfaches Gericht wie Spaghetti mit Soße als ihre Leibspeise hatte. Es war nicht nur einfach zu machen, sondern ging auch relativ schnell. Genauso hielt sich der Schmutz in Grenzen. Ohne eine Antwort abzuwarten, immerhin kannte sie diese sowieso bereits, griff sie nach den Tellern, die Yuiko vorhin bereits herausgeräumt hatte und begann sie mit Nudeln und der Soße zu füllen. Und obwohl sie dabei sehr großzügig war, achtete Ayano doch darauf, dass noch genügend übrig blieb. Wenn Shinya später nach Hause kam, sollte auch er satt werden können. Es war zwar erst Mittag, aber noch einmal würde das Mädchen heute nicht kochen. Sollten sie noch einmal hungrig werden, mussten sie eben Brot zum Abend essen.

Wie immer war Yuiko beeindruckt davon, wie optimistisch und selbstbewusst ihre Schwester an neue Dinge heranging. Erneut wünschte sie sich, etwas mehr wie Ayano zu sein. Schnell wurden ihre Gedanken aber beendet, als diese ihr Essen anbot. "Oh ja, ich bin am verhungern." Mehr als ungeduldig schaute sie dabei zu, wie die beiden Teller gefüllt wurden und sie schließlich einen bekam. Gemeinsam setzten sie sich an den Küchentisch. "Guten Appetit", wünschte sie ihrer Schwester und begann sogleich zu essen. Dass sie sich dabei den Mund verbrannte, kam unerwartet. "Aua." Sie streckte ihre schmerzende Zunge raus, in der Hoffnung sie so etwas abkühlen zu können. Ihr war sofort bewusst, dass Ayano sich deswegen über sie lustig machen würde. Aber was konnte sie dafür, wenn das Essen so gut roch? Sie hatte nun einmal hunger. Geradezu erwartungsvoll schaute sie ihre Schwester an, während sie darauf wartete, dass der Schmerz etwas nachließ.

Sie setzten sich gemeinsam an den Tisch. Ayano konnte nicht einmal so schnell reagieren, wie Yuiko sich bereits eine Gabel mit der heißen Soße in den Mund gesteckt hatte. Natürlich verbrannte sie sich. Das war beinahe schon eine schlechte Angewohnheit des Mädchens, als würde es immer wieder vergessen, dass Essen, welches vor einem Augenblick noch gekocht hatte, verdammt heiß war. Ayano schüttelte einfach nur mit dem Kopf, als ihre Schwester zu ihr schaute. "Achtung, es ist heiß", warnte sie Yuiko schließlich grinsend und begann dann zu scherzen. "Wenn du so weiter machst, bekommst du irgendwann nur noch tiefgefrorene Sachen zu essen." Sie selbst pustete geradezu demonstrativ die Nudeln auf ihrer Gabel an und aß diese dann. "Dann werde ich die ganzen Spaghetti in Zukunft wohl alleine essen müssen." Anfangs hatte sie noch Mitleid mit Yuiko gehabt, wenn sie sich verbrannt hatte. Doch mittlerweile konnte Ayano einfach nicht anders, als sie dafür aufzuziehen.

Wie erwartet machte sich Ayano mal wieder lustig über sie. Und obwohl es eigentlich immer das selbe war, regte sich Yuiko doch darüber auf. "Das ist nicht wahr. Shinya hat gesagt, dass ich nichts gefrorenes Essen muss." Es war nicht das erste Mal, dass Ayano ihr diese Strafe androhte. Beim ersten Mal hatte Shinya dazwischen gehen müssen, weil Yuiko tatsächlich ihren Worten glauben geschenkt hatte. Und obwohl das Mädchen es mittlerweile besser wusste, so berief sie sich nach wie vor auf Shinyas Aussage. "Und überhaupt kann ich doch nichts dafür, wenn es so lecker riecht und schmeckt. Wie soll ich da unnötig warten können, bis es abgekühlt ist?" Yuiko setzte ihren besten Schmollmund auf, während sie ihre Arme verschränkte. Sie machte ihrer Schwester so nette Komplimente und diese hatte nichts besseres zu tun, als sie aufzuziehen. Natürlich war Yuiko Ayano nicht wirklich böse, immerhin waren sie Schwestern und sie wusste nur zu gut, dass das alles nur Spaß war. Dennoch fand sie es nicht nett, dass Ayano sie auslachte, wenn sie sich verletzte. Die Grünhaarige konnte doch auch nichts dafür, dass sie etwas tollpatschig war.

Wie eigentlich immer brachte Yuiko das Argument, dass Shinya das Gegenteil gesagt hatte. Sogleich setzte Ayano einen erleuchteten Gesichtsausdruck auf. "Ach so, da hat er natürlich Recht. Na gut, dann darfst du auch weiterhin Spaghetti essen." Ayano kicherte leise und stützte sich dann mit einem Arm auf der Tischplatte ab. "Wenn du es so lecker findest, dann solltest du erst Recht langsamer essen. Ansonsten kannst du es doch gar nicht genießen. Außerdem ist es nicht gesund, sich ständig die Zunge zu verbrennen. Irgendwann kannst du dann gar nichts mehr schmecken." Ihr Blick war etwas ernster geworden, schließlich hatte das Mädchen gerade beschlossen, ihre Schwester nicht weiter aufzuziehen. Stattdessen versuchte sie es noch einmal, ihr irgendwie diese Unachtsamkeit abzugewöhnen. Danach konzentrierte sie sich lieber auf ihr Essen, da Ayano nach dem ersten Bissen bemerkt hatte, wie hungrig sie selbst war.

Sie beendeten ihr Mittagessen und räumten dann gemeinsam die Küche wieder auf. Immerhin hatte Ayano nicht nur versprochen, zu kochen, sondern auch sich um den gesamten Haushalt zu kümmern. Zum wiederholten Male dachte sie sich, was sie nicht alles für ihren Bruder tat. Um so erleichterter war Ayano darüber, dass sie sich nicht um alles alleine kümmern musste.

[Shinya cf: Napolia: Neustadt, Supermarkt]

Shinya machte sich gar nicht erst die Mühe, die Tür leise aufzuschließen zu versuchen. Seine Schwestern würden ihn sowieso gleich bemerken und damit würde er sich nur noch verdächtiger machen. Während er seinen gelassensten Ausdruck aufsetzte, den er hinbekam, überschlugen sich seine Gedanken. Er war noch so durcheinander, dass er jedoch keine plausible Erklärung hinbekam. Am besten blieb er einfach bei der Wahrheit, auch wenn er nicht wusste, wie er diese verpacken sollte. Er ließ die Tür hinter sich absichtlich laut ins Schloss fallen, so dass die beiden Mädchen ihn einfach bemerken mussten. Es wäre einfacher, wenn sie auf ihn zukamen und nicht anders herum. Während er damit begann seine Schuhe und die Jacke auszuziehen, wartete Shinya angespannt darauf, dass jemand ihn begrüßen würde. Ihm war jetzt bereits klar, dass Yuiko sich einfach nur freuen würde, dass er wieder da war. Vielleicht würde sie nicht einmal merken, dass er viel zu früh war, beziehungsweise es einfach nicht ansprechen. Ayano hingegen würde ihn nicht so einfach davon kommen lassen. Bereits jetzt hatte er ihren bohrenden Blick vor Augen, mit dem sie scheinbar versuchte, seine Gedanken zu lesen. Und gerade heute, wo sie ihn beinahe genötigt hatte, etwas mit Selina zu machen, würde sie nicht so einfach von ihm ablassen. Keine Ausrede, die ihm in seinem jetzigen Zustand einfallen würde, wäre gut genug, um seine Schwester zufrieden zu stellen.

Sie spülten gerade das Geschirr ab, als Yuiko auf einmal hörte, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde, gefolgt von einem lauten Knall. Ohne groß zu Zögern rannte sie zu der Tür, um die Person, die gerade gekommen war, zu begrüßen. Entweder war es ihr Vater oder Shinya, auch wenn es für beide unübliche Zeiten wären. Aber wer sonst hatte einen Schlüssel zu ihrer Wohnung? "Shinya", rief sie freudig, als sie ihren Bruder im Flur entdeckte und sprang ihn geradezu an. Sie waren nicht lange getrennt gewesen und dennoch freute sie sich, ihn wieder zu sehen. "Deine Kleidung ist total nass und kalt", stellte Yuiko fest, als sie sich wieder von dem Jungen löste. "Ist alles okay?" Das es um diese Jahreszeit kalt war mochte normal sein. Doch seine Kleidung war so nass, dass das Mädchen nicht wusste, wie Shinya das angestellt hatte. "Du solltest erst einmal duschen gehen", schlug die Grünhaarige lächelnd vor, wobei sie Shinyas Hand nach wie vor festhielt. Nicht dass der Junge weglaufen würde.

Ayano vernahm das Geräusch der Tür erst, als Yuiko bereits losgerannt war. Und noch bevor sie sich ebenfalls in Bewegung setzen konnte, wusste das Mädchen auch schon, wer da gekommen war. Dass Yuiko sich derart freute war normal, Ayano hingegen schaute alarmiert zur Uhr. Es war viel zu früh. Shinya müsste noch auf der Arbeit sein, diese hatte gerade erst begonnen. Warum also war er hier? Es musste irgendwas passiert sein. Im Türrahmen des zum Flur blieb die Bunthaarige stehen und musterte ihren Bruder. Er sah aus wie immer. Vielleicht etwas erschöpft, doch das war er eigentlich immer, wenn er nach Hause kam. Allerdings war das sonst zu deutlich späteren Zeiten. "Du bist früh", merkte Ayano daher an. Es gab mit Wahrscheinlichkeit einen guten Grund dafür, immerhin war es Shinya, den er hoffentlich mit ihr teilen würde. Ihre Sorge war gerade zu groß, als dass sie sich so wie Yuiko freuen konnte. Diese klebte geradezu an dem Jungen, wobei sie ihn zu einer Dusche überreden wollte. So nett das auch von dem Mädchen war, gerade würde Ayano lieber erfahren, was hier vor sich ging.

Wie erwartet war Yuiko die erste, die auf den Flur gestürmt kam und ihn begrüßte. Bei ihrer Fürsorge konnte Shinya nicht anders als zu lächeln, auch wenn Yuikos einzigen Sorgen seine nasse Kleidung zu sein schienen. "Ja, es ist alles okay, es schneit nur sehr stark." Der plötzliche dichte Schnee hatte Shinya überrascht und zumindest in der Hinsicht war er froh, bereits so früh nach Hause gekommen zu sein. Wer konnte schon sagen, ob später noch ein Bus fahren würde, beziehungsweise, wie lange das dauern würde. Es waren große Schneeflocken, die auf dem gefrorenen Boden liegen blieben. "Aber eine Dusche ist eine gute Idee, magst du mir schon mal das Bad vorbereiten?" Fragend lächelte er seine Schwester an. Natürlich konnte er das auch selbst, doch er wusste, dass Yuiko ihm diesen Wunsch nicht abschlagen würde. So hätte er zumindest kurz Zeit mit Ayano zu sprechen, die bereits im Türrahmen stand und ihn auf die Uhrzeit ansprach, ohne dass Yuiko davon mitbekam. Shinya war immerhin klar gewesen, dass seine Schwester so reagieren würde. Sie wirkte beinahe noch überfürsorglicher, als er selbst, auch wenn Shinya sich sicher war, dass es sich bei ihr einfach nur um Neugierde handelte.

"Was? Es schneit schon wieder?" Bei dieser Frage wurden Yuikos Augen groß. Sie mochte Schnee wirklich gerne. Und obwohl es die letzten Tage bereits so viel geschneit hatte, dass der Schnee auch liegen blieb, war sie bisher nicht wirklich dazu gekommen, das kalte Weiß zu genießen. Selbst in der Schule heute hatte sie nicht einen Schneeball geformt. "Wir müssen die Tage unbedingt rausgehen. Ich will einen Schneemann bauen." Mit glänzenden Augen schaute sie ihren Bruder an, der ihr sicher diesen Wunsch erfüllen würde. Jetzt jedoch stimmte er erst einmal einem Bad zu, was Yuiko ebenso sehr freute. Dementsprechend bereitwillig nickte das Mädchen, als er sie darum bat, das Bad vorzubereiten. Ihr war klar, dass Shinya das genauso gut auch selbst machen konnte, immerhin ging es nur darum, ein paar Handtücher rauszulegen und die Heizung etwas aufzudrehen, damit er sich nicht erkältete. Doch nach allem, was der Junge für sie tat, war das das mindeste, was sie ihm zurückgeben konnte. Und da es so gut wie nie vorkam, dass er um so etwas bat, stürmte Yuiko nun geradewegs ins Badezimmer.

Ayano wartete, bis Yuiko im Badezimmer verschwunden war. Die Tatsache, dass er nicht in ihrer Gegenwart sprechen wollte, alarmierte das Mädchen nur noch mehr. "Du schickst sie weg? Was ist passiert?", platzte es sogleich aus ihr heraus. "Du schwänzt doch sonst nicht deine Arbeit. Sag bloß, du hast es mit Selina vermasselt?" Mit strengem Blick schaute Ayano ihren Bruder an. Dass dieser Kommentar vielleicht unangebracht war in Anbetracht der Tatsache, dass wirklich etwas schlimmes hätte sein können, war dem Mädchen herzlich egal. Es war das, was ihr durch den Kopf ging, also musste sie es auch ansprechen. Außerdem war Shinya doch selbst schuld, wenn er nicht von sich aus sagte, was los war. Während sie ihren Bruder sowohl erwartungsvoll als auch ungeduldig anschaute, ging sie in ihrem Kopf sämtliche Szenarien durch. Doch sie konnte es sich nicht so recht erklären, wie es nun dazu gekommen war, dass ihr Bruder bereits so früh zu Hause war. Den einzig plausiblen Grund dafür, dass er nun seine Arbeit schwänzte, konnte Ayano nur darin finden, dass er es sich mit Selina verbaut hatte. So unwahrscheinlich das aber auch klang, sie wusste wirklich nicht, wie Shinya so etwas anstellen sollte. Er war ein wirklich aufgeschlossener und freundlicher Mensch. Das alles machte keinen Sinn in Ayanos Kopf.

Auch wenn Shinya klar gewesen war, dass Ayano vor Neugierde überlaufen würde, so hätte er sich doch etwas mehr Sorge um ihn gewünscht. Immerhin hätte sonst etwas sein können. Er seufzte leise, ehe er seinen Blick zu Boden richtete. Noch immer wusste er nicht, wie viel er ihr verraten sollte. Wenn sie wüsste, dass Selina eine Infizierte war, würde sie es sicher schneller verstehen. Das Mädchen war die letzte, die ihn dafür verurteilen würde. Aber genau das war der Punkt. Er wusste, dass sie Kontakt zu Infizierten wollte und in dem Fall war er sich sicher, dass sie einige Verkupplungsversuche starten würde. Und das würde er weder sich noch Selina antun wollen. Nur zu gut wusste er, wie hartnäckig Ayano bei solchen Dingen sein konnte. Aber ohne diesen Faktor würde seine Erklärung stark nach einer Ausrede klingen, die sie immerhin auch war. "Mit Selina war alles gut", begann er also vorsichtig. Und es stimmte ja auch. Er hatte vielleicht den Fehler gemacht, nach ihrem Arm zu greifen, doch Shinya hatte nun nicht das Gefühl, dass es deswegen irgendwie schlecht zwischen ihnen stand. Selina war es einfach zu viel geworden, was er durchaus verstehen konnte, auch wenn er es gerne verhindert hätte, dass sie die Flucht ergriff. Für die Zukunft hatte der Junge jedoch gelernt, dass er sie besser nicht noch einmal anfassen sollte. Die Zukunft. Ob Selina ihn morgen wohl beachten würde? Er konnte sich vorstellen, dass ihr das alles furchtbar unangenehm war, dabei hatte sie nicht einmal war falsch gemacht. Erneut seufzte der Junge, ehe er wieder zu seiner Schwester aufschaute. "Eigentlich will ich gar nicht darüber sprechen. Wir haben gemeinsam eingekauft und danach musste sie gehen. Ich bin umgekippt, bevor ich meine Schicht beginnen konnte und wurde nach Hause geschickt. Ich hoffe nur, dass sie mich deswegen nicht rausschmeißen." Er knirschte mit den Zähnen. Diese Sorge war durchaus berechtigt. Und auch wenn er vorhin vor Selina etwas anderes gesagt hatte, so war er doch auf das Geld angewiesen.

Ayano musterte ihren Bruder genauestens, während dieser angestrengt nachzudenken schien. Sie wusste, dass er kein guter Lügner war, und selbst wenn doch, hätte sie ihm geglaubt. Zum einen war sie erleichtert, dass seine frühe Heimkehr nichts mit Selina zu tun hatte, gleichzeitig begann sie sich aber große Sorgen zu machen. "Du bist umgekippt?" Beunruhigt trat sie einen Schritt auf ihren Bruder zu. Es war offensichtlich, dass ihm das zu schaffen machte, zumal die Erschöpfung ihm anzusehen war. Ayano wusste, dass er sich davon nicht bremsen lassen würde, umso erleichterter war sie, dass er nach Hause geschickt worden war. "Deswegen werden sie dich bestimmt nicht rausschmeißen, warum sollten sie auch? Ich bin mir sicher, dass du da hervorragende Arbeit leistest und wenn du jetzt krank bist, dann ist das eben so." Ayano war zwar klar, dass es in der momentanen Zeit doch anders war und man schneller ausgetauscht wurde, als man gucken konnte. Doch Shinyas Gesundheit hatte eindeutig Vorrang. "Shinya, du musst dich ausruhen. Wenn du schon von so etwas umkippst, dann ist das kein gutes Zeichen. Du hast dich in letzter Zeit zu sehr übernommen. Ich weiß, dass du das in erster Linie für uns machst und dafür sind wir dir auch sehr dankbar. Aber unser Bruder bringt uns nur dann was, wenn er auch gesund und für uns da ist. Da verzichten wir lieber auf etwas zusätzliches Geld. Ich bin mir sicher, dass Yuiko auch dieser Meinung ist." Ayano meinte jedes Wort ernst, wobei sie ihren Bruder eindringlich anschaute. Seit jeher kümmerte er sich geradezu aufopfernd um sie, ohne dabei auf seine eigene Gesundheit zu achten. Wenn nicht sie diese Aufgabe übernahm, wer dann?

Ayano glaubte ihm. Doch Shinya bereute es sogleich, ihr nicht die volle Wahrheit gesagt zu haben. Er hatte nicht gelogen, doch das Bewusstsein zu verlieren weil man überarbeitet war, war etwas ganz anderes, als weil man einen Infizierten angefasst hatte. Doch nun würde er seine Aussage nicht mehr ergänzen, möglicherweise würde seine Schwester das nur als Ausrede sehen. Und wenn nicht, dann würde sie ihm mit Selina in den Ohren liegen. "Mach dir bitte nicht so viele Sorgen, es ist alles in Ordnung. Ich bin heute einfach nur erschöpft. Es war der erste Schultag und alles neu. Wenn ich mich daran gewöhnt habe, dann werde ich auch problemlos weiter nebenbei arbeiten können." Er hatte die Worte kaum zu ende ausgesprochen, da war Shinya bereits klar, wie lasch sie klangen. Sie würden Ayano in keiner Weise beruhigen oder gar überzeugen. Also schaute er das Mädchen ernst an. "Hör zu Ayano. Es geht nicht darum, ohne etwas weniger Geld leben zu können. Selbst mit meinem Einkommen haben wir kaum genug, um ausreichend Essen zu kaufen. Eher würde ich die Schule abbrechen, als dass wir hungern müssen." Er meinte seine Worte ernst. Schon oft hatte der Junge darüber nachgedacht, was wäre wenn. Vor einem Jahr noch war ihm die Schule äußerst wichtig gewesen, doch die Zeiten hatten sich geändert. Wer wusste schon, ob ein schulischer Abschluss einen in der Zukunft noch etwas brachte. Was sie aber jetzt und hier brauchten war Geld. Und das bekam man nun einmal nur, wenn man arbeiten ging. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Ayano das nicht verstand.

Shinyas plötzlichen ernsten Worte ließen Ayano nachdenklich werden. Ihr war klar, dass er in gewisser Weise Recht hatte und dennoch wusste sie, dass das nicht der richtige Weg war. Sie wusste, dass er sich zu stark aufopferte. "Dann such ich mir auch einen Nebenjob. Zu zweit verdienen wir mehr und du musst nicht ganz so viele Schichten machen." Eigentlich hatte Ayano nie arbeiten wollen, bis sie mit der Schule fertig war, doch ihre Situation hatte sich doch drastisch geändert. Und wenn sie so ihren Bruder, der so viel für sie tat, etwas entlasten konnte, dann würde sie es nur zu gerne tun. "Aber die Schule darfst du unter keinen Umständen abbrechen. Wir sehen schon Vater so gut wie nie. Wenn du dann auch arbeitest, wer soll auf uns aufpassen?" Ayano wusste, dass sie das genauso gut konnte, doch ihr ging es vor allem um Yuiko, die doch sehr an Shinya hing. Für einen kurzen Augenblick stieg all der Groll in ihr auf, den sie gegen die Rebellen, denen sie in erster Linie die Schuld an der momentanen Situation gab, auf. Würden sie alle zusammen arbeiten, dann wäre das Leben hier nicht so schwer, dessen war sie sich sicher. Doch was brachte es ihr nun, irgendjemanden zu beschuldigen? Shinya war der letzte, der sich dafür interessieren würde. Ihm ging es nur darum, für seine Schwestern zu sorgen. Geradezu flehend schaute Ayano ihn an.

Und da war es wieder, das unleidliche Thema. Shinya stöhnte innerlich auf, bereute er es langsam doch, nicht die volle Wahrheit gesagt zu haben. "Das Gespräch hatten wir oft genug, Ayano. Du wirst dir keine Arbeit suchen, auch keinen Nebenjob. Das ist nicht notwendig. Wenn wir beide weg sind, wer soll sich dann um Yuiko kümmern? Ich mach das schon. So lange es euch beiden gut geht bin ich auch glücklich. Schule hin oder her." Dass das Mädchen so unbedingt wollte, dass er weiterhin zur Schule ging, verwunderte Shinya etwas. Er konnte nicht beurteilen, ob der wahre Grund für diese Aussage wirklich war, dass sie ihn um sie wissen wollte, oder ob sie dabei doch andere Gedanken hatte. Aber Recht hatte das Mädchen. Würde er wie Vater eine Feststelle antreten, würde er seine Schwestern vermutlich genauso selten sehen. Etwas, was er nicht wollte, vermutlich ebenso wie ihr Vater. Er schluckte kurz. "Keine Angst, Ayano. Ich werde die Schule nicht schmeißen. Momentan ist alles gut. Das, was ich verdiene reicht aus und ich übernehme mich wirklich nicht. Sobald ich mich an die neue Situation gewöhnt habe, wird alles bestens funktionieren. Glaub mir." Es funktionierte immerhin jetzt schon. Nur konnte er Ayano jetzt nicht mehr sagen, dass er nicht wegen Überarbeitung umgekippt war, sondern lediglich weil er eine Infizierte berührt hatte. Und wieder wanderten seine Gedanken zu Selina.

"Du bist so stur", maulte Ayano ihren Bruder an, während sie ihre Hände in die Seite stemmte. Warum wollte Shinya keine Hilfe annehmen? Warum machte er sich lieber kaputt? Kurz funkelte sie ihn an, ehe sie sich wieder etwas zu beruhigen versuchte. "Ich werde dich im Auge behalten. Wenn noch mal so etwas ist, dann wirst du mich nicht mehr aufhalten können." Immerhin war es ihre Entscheidung, ob sie arbeiten ging oder nicht. Dass sie ihrem Bruder so unter Umständen nur noch mehr Stress machte, war dem Mädchen nicht bewusst. Sie wollte doch einfach nur, dass es Shinya auch gut ging, und wenn sie das mit Gewalt erzwingen musste, dann war es eben so. Er sollte seinen Abschluss packe, so wie er es sich immer vorgestellt hatte. Und ganz bestimmt sollte er nicht krank werden, weil er sich übernahm. Ayano würde nicht damit leben können, wenn sich ihr Bruder ihretwegen so kaputt machte. "Und wenn du dich das nächste Mal nicht wohl fühlst, dann ruf mich gefälligst an. Was, wenn dir unterwegs wieder was passiert wäre?" Nun brauste sie doch wieder etwas auf, aber anders würde es Shinya vermutlich gar nicht verstehen.

Shinya konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. Ayano machte sich wirklich Sorgen um ihn, auch wenn die Art und Weise, wie sie diese äußerte, durchaus noch ausbaufähig war. Diese Ansage war ihm nur Recht. Schließlich war er sich sicher, dass so etwas niemals passieren würde. Er wusste, dass er sich nicht übernahm, da hatte er schon deutlich stressigere Zeiten hinter sich. Ayanos nächsten Worte überraschten den Jungen allerdings doch etwas. "Das wäre doch total umständlich gewesen." Hätte seine Schwester ihn dann wirklich abgeholt? Seit sie hier lebten, zeigte das Mädchen immer mehr neue Seiten von sich. Und auch wenn er sich freite, dass sie so eine aufrichtige und fürsorgliche Person war, so könnte sie bei ihm doch etwas lockerer sein. Natürlich war es nicht sonderlich klug, alleine unterwegs zu sein, wenn man schon einmal bewusstlos geworden war. Doch Shinya wusste, woher es gekommen war und war sich demnach auch sicher, dass es nicht noch einmal aus dem Nichts heraus passieren würde, auch wenn er sich die ganze Zeit über etwas benommen gefühlt hatte. "Mir geht es schon deutlich besser, ich bin nur etwas müde." Tatsächlich war er erschöpfter als sonst. Dafür war er nun schon so früh zu Hause und konnte das mit etwas zusätzlichem Schlaf sicherlich ausgleichen.

Nachdem Yuiko sich alle Mühe gegeben hatte, zwei Handtücher in ihrer Lieblingsfarbe rauszusuchen und diese ordentlich zusammenzulegen, sowie die Heizung aufzudrehen, eilte sie zurück zu ihren Geschwistern. "Shinya, du kannst jetzt duschen", platzte sie mitten in das Gespräch herein, das die beiden anscheinend gerade geführt hatten. Fragend schaute sie zwischen ihnen hin und her. Während Shinya geradezu fröhlich wirkte, schien Ayano beinahe schlecht gelaunt zu sein. Hatte es etwa Streit gegeben? "Ayano. Wenn Shinya geduscht hat können wir noch mit ihm reden. Jetzt sollte er erst einmal seine nasse Kleidung loswerden und sich aufwärmen." Dabei lächelte sie ihre Schwester breit an, in der Hoffnung so ihr Gemüt etwas beruhigen zu können. Ayano hatte einen sehr aufbrausenden Charakter, während Shinya nicht so einfach nachgab, wenn er etwas für richtig hielt. Dadurch gerieten die beiden immer mal wieder aneinander. Yuiko hatte sich mittlerweile daran gewöhnt und wusste, dass sie sich dennoch lieb hatten. "Wir können in der Zeit ja schon mal das Essen für ihn aufwärmen?" Geradezu flehend schaute sie Ayano an. Wenn Shinya schon so früh zu Hause war, dann sollte er auch mal eine Pause bekommen.